1. Reisen in Zeiten des Klimawandels? Ist das legitim? Und auch noch mit Schülern?
Eines vorab: Zweifelsohne ist ein grundlegendes Umdenken vor allem in Bezug auf die Flugtouristik nötig – Wochenendtrips zum El Arenal und leicht ersetzbare Kurzstreckenflüge sollten längst der Vergangenheit angehören. Dennoch ist die uralte Kulturpraxis des Reisens vor allem für die junge Generation von Bedeutung: Das Erleben anderer Kulturen und der Wissenserwerb vor Ort sind Grundlage für die Ausbildung eines differenzierten Weltverständnisses und von Toleranz. Gemeinsam mit Schülern und Schülerinnen darüber nachzudenken, unter welchen Voraussetzungen sich Reisen heutzutage überhaupt noch rechtfertigen lässt und herauszufinden, wie es sich möglichst nachhaltig gestalten lässt, das war ein Grundanliegen des P-Seminars „Kulturpraxis Reisen“ am Gymnasium Hohenschwangau. Regina Schmid, die zusammen mit Christoph Petraschka das Seminar auf die Beine stellte, fasst ihren Ansatz folgendermaßen zusammen: „Wenn es um nachhaltiges Reisen gehen soll, gilt es, die Auswirkungen stets mit im Blick zu haben. Leider sind nicht wenige auch negativer Natur. Wollen wir vor diesem Hintergrund das Reisen nicht gänzlich aufgeben, ist es unsere Aufgabe, die Jugendlichen dafür zu sensibilisieren, welche Schäden Tourismus nach sich zieht, aber auch welche Möglichkeiten es gibt, diese zu minimieren. Wenn die Schülerinnen und Schüler unseres P-Seminars am Ende ein Problembewusstsein dafür entwickelt haben und vielleicht weniger, dafür aber reflektierter und, falls möglich, ressourcenschonender reisen – dann ist schon viel gewonnen.“
2. Reisen und Lernen
Dabei stand von vornherein fest: Reisen im schulischen Kontext muss einem klaren Bildungsziel unterstellt sein. Und gelernt wurde im P-Seminar „Kulturpraxis Reisen“ tatsächlich eine ganze Menge: Ein inhaltlicher Schwerpunkt war die Frage nach Notwendigkeit, Möglichkeiten und Grenzen nachhaltiger Tourismuskonzepte. Zunächst stand eine präzise Begriffsbestimmung an: Was steckt eigentlich hinter dem Modebegriff „Nachhaltigkeit“? Nach diesen theoretischen Vorüberlegungen ging es an konkretere Fragestellungen, etwa wann Tourismus die Grenze zum „Overtourism“ überschreitet, woran sich dies erkennen lässt und welche Lösungsansätze es gibt. Untersucht wurden auch messbare Kenngrößen der mit touristischem Verhalten einhergehenden Umweltbelastungen: Wie unterscheiden sich die CO2-Belastungen verschiedener Verkehrsmittel? Für welche Reisen ist also ein Umsteigen auf umweltfreundlichere Alternativen nicht nur sinnvoll, sondern auch praktikabel?
Die Besonderheit dieses Kurses war aber nun, dass es nicht bei abstrakten Überlegungen bleiben sollte: Das Gelernte sollte in seiner praktischen Umsetzung aufgehen – und zwar in Form einer gemeinschaftlich geplanten, möglichst nachhaltigen Studienreise in ein europäisches Land. Dass das Ziel dabei Island hieß, erhöhte die intrinsische Motivation freilich enorm und ließ gleichzeitig die Schüler und Schülerinnen am eigenen Leib erfahren, wie wichtig und nützlich die sichere Beherrschung der einzigen von allen teilnehmenden Projektpartnern gesprochenen Verhandlungssprache war, nämlich Englisch.
Zur Sicherstellung der Förderungswürdigkeit im Rahmen der unlängst erworbenen Erasmus-Akkreditierung des Gymnasiums, die eine Kostenübernahme von Seiten des europäischen Bildungsprogrammes ermöglicht, mussten internationale schulische Lernpartner gefunden werden. Diese erste große Hürde wurde mit der Kooperationszusage der „Fjölbrautaskólinn í Breiðholti“, einer Sekundarschule in Reykjavik, genommen. So konnte in Anbetracht der großen wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismussektors für beide Regionen gemeinsam mit den isländischen Schülerinnen und Schülern ein interkultureller Vergleich vorgenommen und über nachhaltige(re) Optionen reflektiert werden. Hier waren Teamfähigkeit, Präsentationstechniken und Kommunikationsgeschick gefragt. Um den Austausch auf ein solides Wissensfundament zu stellen, wurden bereits in der Vorbereitungsphase außerschulische Referenten gewonnen: Im März informierte Dr. Erik Lindner vom Bayerischen Zentrum für Tourismus in Kempten das Seminar in einem Vortrag über die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels auf den Alpintourismus. Ein besonderes akademisches Highlight während der Reise war der Besuch der Klimakonferenz der nordischen Länder (NOCCA) in Reykjavik, die den führenden Köpfen dieses Forschungssektors ein Podium zum Austausch bot. Den Hogauer Schülern und Schülerinnen lieferte der Besuch gleichermaßen inhaltlichen Input bezüglich klimatischer Zukunftsszenarien wie auch die leibhaftige Erfahrung, dass „English listening comprehension“ im realen Leben von vielen Faktoren beeinflusst wird: Nicht nur erwies sich die vorab geleistete Vokabelarbeit von großem Nutzen, sondern es wurde deutlich, dass sprachliche Varietäten und auch Störgeräusche keine reine Schikane in fiesen Abiaufgaben sind. Und von allem abgesehen konnten die zukünftigen Studierenden bereits jetzt in die Welt der internationalen academia hineinschnuppern.
Um dem Praxisgedanken des P-Seminars gerecht zu werden, wurde im Laufe des Jahres ein breites Spektrum möglicher Berufsfelder erkundet – schließlich soll es Schüler und Schülerinnen bei ihrer Studien- und Berufswahl unterstützen und sie auf die Anforderungen der Studien- und Berufswahl vorbereiten. Die Planungs- und Umsetzungsphase der Reise erlaubte es den Seminaristen und Seminaristinnen beispielsweise, sich im weiten Feld des Projektmanagements zu erproben, da alle Teilschritte der insgesamt 12-tägigen Unternehmung basisdemokratisch mitbestimmt und eigenständig organisiert wurden. Da galt es Ablaufpläne zu entwerfen, internationale Vergleichsangebote in der Fremdsprache einzuholen und zu buchen, Vorhaben mit der Partnerschule abzusprechen, Termine einzuhalten, Pläne zu studieren, Detailinformationen zu recherchieren, Backup-Lösungen parat zu haben, Logos zu designen, Öffentlichkeitsarbeit auf traditionellen und modernen Kanälen zu betreiben und nicht zuletzt auch zahlreiche Sponsoren zu gewinnen. Ohne sie wären manche der besonders kostenintensiven Programmpunkte und Extraaktivitäten dieser Fahrt nicht möglich gewesen: Den Gletscher nicht nur aus der Ferne zu bestaunen, sondern zu erklimmen und in die kristallblauen Tiefen seiner Innenwelt hinabzusteigen, zählte unbestritten zu den landschaftlichen Highlights der Reise. Nicht minder beeindruckend war es, die Bemühungen zum Erhalt der arktischen Artenvielfalt im Rahmen einer von Meeresbiologen geführten Wal- und Vogelbeobachtungstour zu erleben („Puffins!“). Diese und weitere zwischen den Besuchstagen an der Partnerschule stattfindenden Aktivitäten (Nordlichttour) und Stationen (Museen, Lavahöhle, University of Iceland, Regierungssitz etc.) führten eindrücklich vor Augen, wie einzigartig dieses kleine Land am Rande von Europa doch ist: Island hat das älteste Parlament Europas vorzuweisen, eine faszinierende Kultur (Stichwort Elfen und Sagas), eine außerordentlich starke regionale Identität (Bye, bye McDonalds, hello Aktu Taktu), eine hochentwickelte Geothermaltechnik, eine traditionelle Kulinarik, die gleichermaßen besticht (Zimtschnecken) und traumatisiert (Räucherhai) und im Nebeneinander von Feuer und Eis die vielleicht spektakulärste Naturlandschaft Europas.
Dabei mag es paradox klingen, das fragile Ökosystem Islands, das nicht zuletzt durch den CO2-Ausstoß bei Flugreisen akut bedroht ist, zusätzlich durch einen Besuch vor Ort zu belasten. Wer indes einmal leibhaftig die Strecke abläuft, die der Vatnajoküll, der größte Gletscher Europas, jedes Jahr an den Klimawandel verliert, der wird keine unbedachte Flugreise mehr durchführen – davon sind die betreuenden Lehrkräfte fest überzeugt. Er wird sich vielmehr bemühen, den angerichteten Schaden zu minimieren und zu kompensieren. Und genau das war auch die nächste große Aufgabe des P-Seminars.
3. Nachhaltigkeit: Mehr als nur eine Phrase
Damit die vielbemühte Nachhaltigkeit nicht Gefahr lief, zur leeren Worthülse zu verkommen, wurde bei der Durchführung der Fahrt an vielen kleinen Stellschrauben gedreht, um die Ökobilanz aufzubessern. Das reichte von Maßnahmen wie der Vermeidung von Einwegplastik auf der Reise, der Wahl klimafreundlicher Transportoptionen vor Ort, dem sorgsamen Umgang mit der Natur auf den Exkursionen, einem veganen bzw. vegetarischen Verpflegungstag für alle, bis hin zur eigenhändigen Herstellung biologisch abbaubarer Reisesouvenirs aus Holz in einem „Fablab“, einer Art öffentlich zugänglichen DIY-Werkstatt mit Lasercuttern usw. Ein großes Problem ließ sich freilich nicht schönreden: Der Flug an sich verursachte einen enormen Ausstoß klimaschädlicher Gase. Christoph Petraschka gibt zu: „Wie hoch die Emissionen tatsächlich waren und wie schwierig eine halbwegs überzeugende Kompensation werden würde, darüber waren alle überrascht. Dennoch wollten wir nicht einfach Zertifikate kaufen, sondern etwas „Handfesteres“ machen. Am liebsten wäre uns eine Aktion vor Ort gewesen, zum Beispiel beim innovativen ORCA-Projekt in der Nähe Reykjaviks, dem wir einen Besuch abstatteten. In diesem Geothermalpark entwickelt und erprobt man gerade ganz neue Technologien, um Kohlendioxid aus der Luft zu filtern und wieder im Gestein zu binden („Carbon Capture“). Im Moment ist das aber noch so teuer, dass eine vollständige Neutralisierung unseres Kohlendioxidausstoßes weit jenseits unserer finanziellen Möglichkeiten lag. Aber auch das war eine wichtige Erkenntnis für alle: Eine endgültige Rückführung des durch unsere Flüge freigesetzten CO2s ins Gestein war für uns nicht möglich“. Immerhin spendete das Seminar an die Einrichtung, um die Forschung in diesem wichtigen Bereich zu unterstützen. Die nächste Idee war es, Bäume zu pflanzen – schließlich spielen diese eine Schlüsselrolle in der Regulation des CO2-Haushaltes. „Da der Boden in Island noch gefroren war, haben wir Bäume in Schwangau gepflanzt“, so Petraschka weiter, „und zwar drei Stück pro Person.“ Unterstützt von der Waldgenossenschaft Schwangau und zwei erfahrenen Förstern erhielten die Schüler und Schülerinnen während dieses Pflanznachmittags wertvolle Einblicke in das Ökosystem Wald und legten so den Grundstein für die CO2-Kompensation ihrer Reise.
4. Fazit: Was bleibt?
„Es war einfach etwas Besonderes. Und Lernen kann auch Spaß machen“. „Wir sind schon stolz: Krasse Erfahrung.“ „Island ist einfach wunderschön“. „Jederzeit wieder“. So oder ähnlich verlief das allgemeine Feedback der Islandfahrer und Islandfahrerinnen. Was ein halbes Jahr enorme Arbeit und den Verzicht auf eine Woche Ferien bedeutete, auch zu Kritik führte und immer wieder mit planerischen Schwierigkeiten und Rückschlägen verbunden war, zahlte sich schlussendlich aus: 15 Hogauer Schülerinnen und Schüler sowie zwei Lehrkräfte durften im hohen Norden absolut unvergessliche Momente erleben – und dabei ganz viel lernen.
Abschließend resümieren die Seminarleitenden: „Wir sind sehr stolz auf unsere Schüler und Schülerinnen. Was sie geleistet haben, um dieses Projekt zu realisieren, war wirklich beeindruckend. Um im Detail und unterstützt mit Bild- und Videomaterial von den gemachten Erfahrungen zu berichten, plant das Seminar im kommenden Herbst einen Islandabend für alle Interessierten zu veranstalten. Nähere Informationen dazu folgen nach den Sommerferien: Þangað til þá – Bis dahin!
Das P-Seminar Island (Gymnasium Hohenschwangau)
Das P-Seminar auf dem Gletscher
Hogauer an der Partnerschule in Reykjavik
Das Fahrtenlogo
Die Gletscherlague
Nordlichter
Meeresbiologische Exkursion